9.
Ich lag seit sechs Uhr wach. Meine Zimmerkollegen und Kolleginnen schnarchten laut vor sich hin. Ein Franzose war heute morgen schon gegen halb sechs aufgebrochen, ein Italiener gerade aufgestanden. Er leuchte mir mit seiner Stirnlampe direkt ins Gesicht. Ich ging in Gedanken die bisherige Reiseroute zum dritten Mal durch. War mir irgendetwas aufgefallen, was wichtig gewesen sein könnte. Samstag Bayonne, Sonntag Ulia, Montag Orio, Dienstag Zumaia, Mittwoch Deba, Donnerstag Arnorpe, Freitag Zenaruzza. Nein, da war nichts und heute am Samstag sollte Gernika drin sein und Morgen würde es dann bis Bilbao gehen und ich würde bald auf Peter treffen, meinen alten Pilgerfreund.
Der Italiener hatte zusammengepackt und verschwand grußlos. Wir hatten gestern Abend noch lange geredet. Karin-Maria schien immer noch sehr bedrückt und bekam diesen Schrei nicht aus dem Kopf, wie sie immer wieder sagte. Da half auch kein Bier, selbst wenn es einen Alkoholgehalt von neun Prozent hatte. Wir hatten beschlossen morgen früh nicht gemeinsam zu starten, die Mädels wollten schon um sieben Uhr los gehen. Das war Günter noch zu früh. Und da ich mich mittlerweile ganz gut mit meinem Leipziger Pilgerkollegen verstand, würde ich auch morgen, gemeinsam mit ihm den weiteren Weg bestreiten.
Wir frühstückten in aller Ruhe, spendeten noch großzügig für Bett, Pilgermesse und Verköstigung und der Abt, ein graubärtiger Mann um die sechzig erzählte uns auf englisch, dass er vor kurzem noch in Deutschland gewesen sei, zu einem wichtigen, ökumenischen Treffen. Er wäre in Frankfurt gelandet, habe nur kurz telefoniert um nach dem Weg zu fragen und schon sei sein Koffer weg gewesen, den er vielleicht drei, vier Minuten habe unbeaufsichtigt stehen gelassen.
Natürlich habe der Abt gedacht, der Koffer sei gestohlen worden und er sei schnurstracks zur Flughafenpolizei gegangen um den Diebstahl anzuzeigen. Aber da habe sein Koffer schon vor einem Schalter in der Station gestanden und ein deutscher Polizist hätte ihm ziemlich unfreundlich erklärt, er hätte den Koffer nicht unbeaufsichtigt lassen dürfen. Das würde jetzt einhundertzwanzig Euro Strafe kosten. Der Polizist hätte sich durch nichts erweichen lassen und so hätte der Abt schließlich sein letztes Geld gegeben um seinen Koffer wieder zu bekommen. Und so fragte er uns auf englisch, wo denn da die Gerechtigkeit sei. Wir Pilger wären hier überall willkommen, auch die deutschen Pilger.
„Wir geben ihnen zu esssen und unser bestes Bier. Und ich lasse einmal meinen Koffer aus den Augen und zahle einhundertzwanzig Euro Strafe!“ Er lachte, aber sein Lachen klang zynisch und böse. Ich zuckte mit den Schultern und konnte ihm keine Antwort geben. Aber ich reichte ihm die Hand und dankte ihm nochmal für alles. Nun wurde sein Gesicht wieder etwas milder und er lächelte wesentlich freundlicher.
Wir kamen an diesem Morgen gut voran, bald hatten wir ein Waldstück durchquert, eine Anhöhe erklommen und waren über hundertmeterlange Holzstege in ein kleines Dorf gekommen. Leider war das einzige Café am Ort noch „cerrado“, was so viel wie geschlossen hieß und wir schritten ohne den erhofften Koffeinschub immer weiter voran. Günter führte von unterwegs zwei lange Telefongespräche mit seiner Mutter und einem Geschäftspartner . Während der letzten Tage war er zu der Entscheidung gekommen, sich womöglich aus dem aktiven Geschäftsleben zurückzuziehen und vielleicht noch einmal etwas ganz anderes zu machen. Da er ausgebildeteter Tauchlehrer war, hatte er durchaus Möglichkeiten zumindestens während der Saison. Hurghada in Ägypten, das war so ein Traum, da gab es wahre Tauchparadiese, dort war er nach dem Tod von seinem Sohn schon einmal für längere Zeit gewesen und auch ein wenig zur Ruhe gekommen.
In Munitibar an der dortigen Kirche mit dem herrlichen Rundgang stießen wir wieder auf Karin-Maria und Roswtha, die dort eine Rast machten und sich angeregt unterhielten. Wir hatten das Gefühl, das die beiden auf unsere weitere Gesellschaft für die nächsten Stunden gern verzichten würden und machten uns wieder auf den Weg. Über Waldwege, Schotter und Asphalt ging es weiter. Zur Mittagszeit trafen wir in Ajangiz auf Johanna, die ältere Schweizerin. Hier hatte ein Café geöffnet und wir stärkten uns ausgiebig für den weiteren Weg.
Gegen vierzehn Uhr bereits kamen wir in Gernika an, fanden zu dritt auch gleich unser Etappenziel, die dortige Jugendherberge, die aber erst um fünfzehn Uhr öffnen würde. Ich wollte heute noch unbedingt ins Museo de la Paz, das Friedensmuseum und würde heute nichts waschen können. Johanna bat sich mir anschließen zu dürfen. „Gern“, gab ich ihr zur Antwort!
Günter wollte nicht mit, wusste aber auch nicht viel mit der Geschichte dieser Stadt anzufangen. Wir vertrieben uns die Wartezeit mit dem Besuch einer nahen Cafeteria, gönnten uns Café con leche, Tarta de Manzana, was einem wohlschmeckenden Apfelkuchen entspricht und natürlich gab es auch wieder das unvermeidliche Bierchen. Was wäre Spanien, ohne San Miguel, Mahou und das ebenso gute Estrella? Spanisches Bier wurde so langsam zu unserem täglichen Treibstoff auf dem Weg. „Salute, Amigo y Amiga!“
In der Cafeteria hingen alte Bilder und Fotos der Stadt, anscheinend vor den Bombenabwürfen gemalt und aufgenommen. Gernika, war und ist ein ganz dunkles Kapitel, der deutsch-spanischen Geschichte, auf das man auch heute nach über achtig Jahren nicht stolz sein muß. Der Maler Pablo Picasso, einer größten Söhne Spaniens hat den Wahnsinn dieses Kieges in seinem Bild „Guernica“ für die Nachwelt verewigt und eines der berühmtesten Gemälde des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen, das sich seit neunzehnhundertzweiundneunzig in den Räumen des Museo Reina Sofía in Madrid befindet und dort zu besichtigen ist
Zwischen neuzehnhundertsechsunddreißig und neunzehnhundertneununddreißig tobte in Spanien ein fürchterlicher und vernichtender Bürgerkrieg zwischen den Truppen der demokratisch gewählten Regierung der Zweiten spanischen Republik und den nationalistischen Putschisten unter General Francisco Franco, dem fanatischen Anführer des abtrünigen Militärs. Beide Seiten erhielten Unterstützung durch ausländische Truppenverbände und Waffenlieferungen. So versorgte die Sowjetunion unter Stalin die Republikaner, während das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien die Seite der Nationalisten unterstützten.
Als der Putschversuch der Militärs zu scheitern drohte, erhielten die spanischen Franquisten Hilfe von den Regierungen in Deutschland und Italien. Dabei sollte die deutsche Luftwaffe, die seit neunzehnhundertfünfunddreißig neu aufgebaut wurde, Kampferfahrung sammeln und die Entwicklung neuer Flugzeugtypen und Luftkampftaktiken vorangetrieben werden.
Bereits knapp einen Monat vor Gernika, wurde die zwanzig Kilometer entfernte Kleinstadt Durango von deutschen Flugzeugen bombardiert. Bei diesen Angriffen starben über dreihundertfünfzig Menschen. Diese Bombardierungen erlangten aber kaum Bekanntheit.
Gernika, eine Kleinstadt mit damals knapp sechstausend Einwohnern, befand sich zu dieser Zeit in einem schmalen, von den Republikanern kontrollierten Streifen, der jedoch durch die von General Francisco Franco angeführten Vorstöße schon im Juli des Jahres neunzehhundertsechsunddreißig von den anderen republikanischen Gebieten abgetrennt worden war. Ziel des deutschen Angriffs auf Gernika war die Zerstörung einer fünfundzwanzig Meter langen und zehn Meter breiten Steinbrücke über den Fluss Oca, die das Zentrum mit dem östlichen Stadtteil Rentería verband. Dadurch sollte die Infrastruktur zerstört und den Truppen Francos ein leichteres Erobern der Stadt ermöglicht werden.
Am Morgen des sechsundzwanzigsten April neuzehnhundertsiebenunddreißig, einem Montag, meldete die Besatzung einer Dornier Do siebzehn, der Versuchsbomberstaffel achtundachtig fälschlicherweise größere Truppenansammlungen am Rande der Stadt. In Wahrheit handelte es sich um Zivilisten auf dem Weg zum Markt. Der Stabschef der Legion Condor, sah hierin eine taktische Gelegenheit, die vermeintlichen „Reserven“ des Gegners zu isolieren und dann zu vernichten und erhielt die Angriffsfreigabe von Oberst Vigón, dem Stabschef von Emilio Mola.
Nachmittags um fünfzehn Uhr fünfundvierzig startete auf dem Flughafen Burgos, etwa einhundertdreißig Kilometer südwestlich von Gernika gelegen, eine Do siebzehn mit vier Mann Besatzung an Bord. Begleitet von Jagdfliegern aus Vitoria zum Schutz flog die Maschine zunächst etwa zehn Kilometer auf den Golf von Biscaya hinaus und kehrte dann in einer Schleife nach Gernika zurück. Die Bomben, entriegelt um sechzehn Uhr dreißig fielen direkt ins Stadtzentrum.
Zehn Minuten später führte das Flugzeug die erste Staffel, bestehend aus drei Savoia-Marchetti-Maschinen der italienischen Legion, über der Küste an. Diese steuerte über die Stadt und ließ die Bomben aus einer Höhe von etwa siebenhundert Metern fallen. Um siebzehn Uhr hoben fünfzig Kilometer südlich der Stadt, in Vitoria, zehn Jagdflugzeuge ab; zur gleichen Zeit starteten siebenundzwanzig Bomber von Burgos aus. Bei diesen handelte es sich um behelfsmäßig umgebaute Transportflugzeuge, welche nur mit provisorischen Bombenzielgeräten ausgestattet waren.
Fünfzehn Minuten darauf trafen die Jagdflugzeuge in Gernika ein. Wenig später warfen die umgebauten Transportflugzeuge ihre Bombenlast in drei Wellen ab. Gegen achtzehn Uhr fünfzig erreichten mehrere Flieger erneut den Ort und schossen auf die Flüchtenden. Zehn Minuten später flogen weitere Jagdflugzeige den letzten Angriff.
Durch die Bomben und das anschließende Großfeuer wurden etwa achtzig Prozent aller Gebäude zerstört, unter anderem der Bahnhof und eine Olivenfabrik, deren Brand dichte Rauchwolken zur Folge hatte und die Zielgenauigkeit der späteren Angriffswellen beeinträchtigte. Die Rentería-Brücke allerdings war nicht von einer einzigen Bombe getroffen worden. Sie blieb genauso unbeschädigt wie eine kleinere Waffenfabrik und auch beide Krankenhäuser.
Am Tag nach dem Angriff auf Gernika berichteten die Zeitungen, dass wahrscheinlich Hunderte von Menschen durch den Angriff gestorben seien. Die exakte Bestimmung der Opferzahlen war nie wirklich möglich, weil sich zu Zeitpunkt dieses Kriegsverbrechens auch hunderte von Flüchtlingen in Gernika aufhielten.
Angesichts dieser unmenschlichen Tragödie ist es um so bemerkenswerter, das wir Deutschen heutzutage gerngesehene Gäste in Gernika sind und uns keinerlei Haß entgegen gebracht wird. Es besteht nur er ehrliche Wille zur Versöhnung. Trotzdem, in diesen Momenten des Nachdenkens und des Erinnerns, erfaßt mich immer wieder eine unfassbare Leere. Ich stehe nur da und begreife es nicht! Wie können Menschen, anderen Menschen so etwas antun? In diesen Augenblicken schäme ich mich für mein Vaterland. Das Land der Dichter hat mehr als einmal die Maske der Richter und der Henker aufgesetzt.
Wir meldeten uns in der Jugengherberge an, zahlten nicht viel, begangen unseren Pilgerstempel und waren für den Moment zufrieden.
Günter hatte keine Lust auf das obligatorische Pilgermenü an Abend, ihm würden auch Brote reichen. Ich machte den Vorschlag etwas zu kochen, falls er einkaufen würde. „Aber nur, wenn es etwas wirklich Einfaches gibt!“ Er sollte sich überraschen lassen, der alte Zausel! Wir machten einen Einkaufplan. Eier, Zwiebeln, Paprika, Kartoffeln, Tomaten, etwas Speck und Cornichons. Günter bezweifelte das das ein vernünftiges Abendessen werden könnte. Er würde auch noch Brot, Käse und etwas Schinken einkaufen, man wusste ja nie. „Aber um das Bier und den Wein kümmerst du dich!“ Er lächelte.
Ich duschte, zog mich um, reinigte meine Halbschuhe, stopfte sie wieder mit Zeitungspapier einer Tageszeitung aus, die ich in einem Vorraum entdeckt hatte. Ein wenig feucht blieben die Dinger immer, aber die große Blase unter meinem Fußballen war fast verschwunden, was für mich wie ein kleines Wunder schien. Nun also in den zu engen Wanderstiefeln eine kleine Stadtvisite mit Johanna und der angedachte Museumsbesuch.
Das Friedensmusuem war seinen Eintritt wirklich wert und Johanna und ich bummelten nach dem Besuch noch ein wenig durch die Stadt, sie erzählte mir von den drei Kindern, die sie groß gezogen hatte, von der Arbeit auf dem Bauernhof, den sie später aufgegeben hatten, weil sich mit der kleinen Milchwirtschaft nichts mehr verdienen ließ. Mit füfunddreißig habe sie noch einmal Theologie studiert und sogar acht Jahre als Religionslehrerin an einer kleinen Schule gearbeitet, bis dann die schwere Krankheit des Mannes alles verändert habe. Ich nahm sie in den Arm und drückten sie. Manches muss halt raus und es ist schön jemanden zu haben, der zuhört und der einen, vielleicht ein ganz klein wenig auffängt.
Meine Stiefel drückten schon wieder unerträglich und ich wollte keine neuen Blasen riskieren. Alos erstand ich in einem kleinen Chinesenladen, ein Paar billigster Sandalen, die ich gleich anzog. Nun ließ es sich wesentlich besser laufen. Für einen kuzen Moment überlegte ich, meine Wanderstiefel an einer alten Holzbank stehen zu lassen, trug sie dann aber doch tapfer weiter und würde sie auch auf den nächsten Etappen weiter mit mir herumschleppen. Kurz vor der Jugendherberge kauften wir auch noch zwei Literflaschen San Miguel und einerschwingliches Fläschen Rioja, man wusste ja nie!
Auch Günter hatte seine Einkäufe schon erledigt und redete nun mit wortreichen Gesten mit Dana, einer Pilgerin aus Tschechien, knapp fünfundzwanzig und alleinreisend. Unter ihrem Basketballcappy schimmerte rotes Haar. Wenn das kein schlechtes Zeichen war!
Peter hatte sich per SMS gemeldet. Mein alter Freund würde am späten Montagnachmittag, also übermorgen in Bilbao landen. Ich hatte ihm noch nichts von meinem Reisegefährten Günter geschrieben, aber schon ein paar Fotoeinträge auf Facebook hinterlassen.
Auch Karin – Maria und Roswitha trafen gegen achtzehn Uhr in der Herberge ein und bekamen die letzten Plätze. Roswitha war auf einem der Abstiege gestürzt und hatte sich einige Blessuren zugezogen. Wir verarzteten ihre Hautabschürfungen, aber sie wollte am nächsten Tag, vorsichtshalber einen Doktor aufsuchen, bevor es nach Bilbao weiter gehen sollte. Karin – Maria würde sie begleiten, obwohl sie zugab, das ihr dieser bisherige Weg, schon lange keinen Spaß mehr bereiten würde. Aber was nicht war, konnte ja wieder werden.
Zumindestens das Abendessen verlief erfolgreich. Rohe Karoffeln wurden in kleine Scheiben geschnitten, gesalzen, mit feinem Zwiebelwürfeln und reichlich Speck in guten Olivenöl angebraten, bis sie schön durch und knusprig waren, dann kamen klein geschnittene Paprikastücken und die ebenfalls feingewürfelten Tomaten hinzu. Es duftete bereits herrlich! Zum Schluß wurden feingehackte Cornichons unter die brutzelnde Masse gegeben, die Eier aufgeschlagen, mit einen Kocklöffel zu Rührei verquirllt, und das Ei dann ebenfalls in die schmurgelnde Pfanne gegossen, die fast überquoll.
Es sah nicht unbedingt appetitlich aus, dieses Hoppel – Poppel aus meiner Küchenkreation, aber der Duft trieb die hungrige Meute dann doch an die Teller. Wir bekamen sogar noch fünf, sechs weitere Mitpilger und Pilgerinnenen satt, darunter auch Dana, die es Günter wirklich angetan hatte. Ich redete noch eine Weile mit Bogdan einem rumänischen Rentner aus der Nähe von Brașov, dem ehemaligen Kronstadt. Er hatte sieben, wirklich harte Jahre auf diese Reise auf dem Küstenweg gespart und wollte bis Porto gehen. Bier und Wein waren bald geleert und ich ging zufrieden zu Bett, kroch in meinen Schlafsack und empfand die Stille einfach herrlich, in diesem noch fast menschenleeren Raum. Ich schlief bald ein.
Am frühen Sonntagmorgen stand ich gegen sieben Uhr auf. Ich ärgerter mich mein kleines, rotes Taschenmesser war fort. Gestern hatte ich damit Zwiebeln und Kartoffeln geschnitten und es dann auf dem Tisch liegen gelassen, nun war es fort. Mürrisch packte ich meine Sachen zusammen. Es sollte nun also bis Bilbao gehen. Wir waren vorgewarnt, das in Bilbao kaum noch ein Bett zu bekommen war. Aber egal erst mal loskommen und die ersten Kilometer laufen. Johanna, die uns an diese Morgen begleiten wollte, drängelte bereits. Aber Günter war noch ziemlich groggy. Er hatte auch ein Veilchen unter dem rechten Auge. „Da muss ich wohl irgendwo vorgelaufen sein“, grummelte er. Irgendwo hatte der alte Schlawiner sich heute Nacht rumgetrieben, aber er konnte sich angeblich an nichts, mehr erinnern. Na ja, solche Filmrissev hat ich auch schon des öfteren. Da half nur weniger Cerveza und Vino trinken.
Gegen acht Uhr zwanzig kommen, wir nachdem wir uns noch von Roswitha und Karin-Maria verabschiedet hatten endlich los. Günter sah wirklich nicht gut aus, aber das half jetzt nicht, der Weg rief und mitgefangen, heißt mitgehangen!
Hinter der kleinen Kapelle Santa Luzia, ging es bald wieder steil einen Waldweg hinauf. Wir erreichten nach zwei Kilometern eine Weggabelung, gingen später durch eine Unterführung, wanderten auf einer schmalen Asphaltstraße weiter und es begann wieder zu tröpfeln. Für den Moment verweigerten wir uns noch, aber spätestens nach einem morastigen Waldstück wurde der Regen wieder so stark, das wir doch unter die schützenden Hüllen unserer Regenponchos schlüpften. In dem kleinen Ort Esterika trennten wir uns. Günter und ich wollten in der Herberge einen Kaffee trinken, Johanna lieber langsam weiter gehen. Leider hatte die Herberge geschlossen, wieder alles „cerrado“, in diesen Momenten verflucht man den Weg schon ein wenig. Günter verschwand in den Büschen und kam bald sichtlich erleichert zurück.
Später telefonierte Günter wieder ausgiebig mit seiner Familie. Während ich im Takt meiner Wanderstöcke das Tempo bestimmte, schwitzend wie ein Tier unter dem roten Regendress, den Pilgerhut auf dem Kopf, der doch ein wenig Schutz bot, lief er seelenruhig hinter mir drein, immer das Handy am Ohr und redete und redete. Da ich mir auf dem Weg nach Arnorpe meine beste Wanderhose zerrissen hatte, trug ich diese Hose jetzt in ihrer Kurzform, hatte die verschlissen und zerrissenen Beinteile, die man per kleinem Reißverschluß abtrennen konnte längst entsorgt. Sicherlich konnte man unter diesem Regenponcho auch nur mit T-Shirt und Unterhose wandern gehen, oder splitterfasernackt. Das würde zumindestens das tägliche Wäsche waschen vermeiden, ging es mir durch den Kopf.
Wieder ging es bergauf und bergab, ein steiler, matschiger Abstieg brauche Mut und Konzentration und in meinen Halbschuhen wurde es wieder feucht und feuchter, aber was sollte ich machen? Diese verdammten Stiefel, die immer noch im Beutel an meinem Rucksack baumelten, sie passten einfach nicht. Vorbei an einsam gelegenen Höfen kam nun langsam Lezama näher. Von dort aus war es nicht mehr weit so weit bis nach Bilbao.
Bei einen Bauernhof sausten zwei junge Mädchen herum und führten uns aufgeregt an einen kleinen Stand. Dort verkaufen Sie nicht gerade billig, Obst und Müsliriegel. Wir nahmen den beiden geschäftstüchtigen Chicas selbstständlich je einen Apfel und zwei Müsliriegel ab. Die Äpfel aßen wir sofort, die Müsliriegel stecken wir für „Notfälle“ ein.
In Lezama machten wir eine kurze Bierpause. Günter entschied sich zu meiner Überraschung für einen Kräutertee. Es schien ihm doch noch nicht so gut zu gehen. Er grübelte darüber nach, wo er gestern wohl noch gewesen war, aber das leere Loch, ließ sich nicht mit Erinnerung füllen. Kurz berieten wir, ob es nicht besser sei, mit dem Bus die dreizehn Kilometer bis Bilbao zu fahren, verwarfen diesen Gedanken, aber recht schnell wieder. Also weiter Muchachos, immer weiter!
Der Monte Avril verlangte uns noch einmal eine Menge ab. Nach zwei, drei kurzen Pausen neigte sich unser Wasser dem Ende entgegen und auch die Müsliriegel fanden jetzt ihre Abnehmer. Der Monte Avril ist landschaftlich absolut herrlich, aber bei Nieselregen und windigem Wetter leider auch viel zu anstrengend. Unterwegs überholen wir einen älteren Holländer, der von sich selber erzählte, er käme immer als Letzter an und schnarche dann am in der Nacht am lautesten. Ich liebe solche Pilgerbrüder!
Später traten wir mitten auf dem Weg, fast noch in einen eindeutig menschlichen Haufen. Es wäre dem Verursacher dieses stinkenden Exkrementenhügels vermutlich problemlos möglich gewesen, nach rechts oder links in die Büsche auszuweichen. Aber hier hatte es sich jemand mal wieder ganz einfach gemacht. Was die Umwelt angeht, sind ja so einige Pilger- und Pilgerinnen, leider alles andere als Heilige. Immer wieder gibt es Plätze, die eindeutig als Toiletten benutzt werden und meist hätte man Klopapier und Häufchen etwa dezenter setzen können. Eine weitere Unsitte sind Erfrischungstücher, die sehr häufig während des Weges liegen. Diese verrotten nicht wirklich schnell. Kurz vor Bilbao hörte der Regen endlich auf und die Sonne kam bald zum Vorschein.
Bilbao an diesem Sonntag, war für uns ein kleines Abenteuer.
Diego López der Fünfte de Haro gründete die Stadt an der Mündung des Nervión am fünfzehnten Juni dreizehnhundert auf den Grundfesten der Vorgängerkirche von Begoña. Rechtliche Grundlage war ein an diesem Tage in Valladolid geschriebener und am vierten Januar dreizehnhundert undeins durch Ferdinand den Vierten von Kastilien und León in Burgos bestätigte Gründungsbrief, sogenannte Carta Puebla. In der Einleitung dieses Gründungsbriefes heißt es:
En el nombre de Dios é de la virgen vienaventurada Sancta María. Sepan por esta carta quantos la vieren é oieren como yo Diego Lope de Haro, sennor de Vizcaia, en uno con mi fijo Don Lope Diaz é con placer de todos los vizcaynos, fago en Bilvao de parte de Vegonna nuevamente población é villa qual dizen el puerto de Bilvao...(dt.: Im Namen Gottes und der seligen heiligen Jungfrau Maria. Wisst, dass durch diesen Brief, wenn ihr ihn sehen oder davon hören mögt, wie ich, Diego Lope de Haro, Graf von Vizcaya, einig mit meinem Sohne Don Lope Diaz und zur Freude aller Vizcaynos, mache in Bilvao auf dem Teil der Vegonna (Begoña) von neuem Ortschaft und Gemeinde, die man Hafen von Bilvao nennen soll...
Zum Zeitpunkt der Gründung befand sich dort, wo heute Bilbao la Vieja steht, ein kleines Dorf von Eisenschmieden, Seeleuten und Bauern. Die Landwirtschaft verschwand langsam mit der Zeit, aber das Eisenerz und das Meer haben sich als bestimmende Elemente Bilbaos im Laufe der Geschichte erhalten. Das hochwertige Erz der nahen Bergwerke wurde schon von den Römern geschätzt und ausgebeutet. Die Tatsache, dass die Ria ein großes Stück weit schiffbar ist, machte es möglich, im darin gelegenen Hafen, der sicherer war als jene an der Küste, die Waren Kastiliens zur Ausfuhr nach Europa zu verladen. Ein Produkt der Eisenindustrie Bilbaos, auch wenn es sich dabei um kein sehr rühmliches handelt, hat sogar den Eintrag in die Weltliteratur gefunden. So heißt es in Shakespeares Hamlet: „Methought I lay worse than the mutinies in the bilboes.“ Mit Bilboes sind eiserne Stangen gemeint, an welche die Matrosen zur Strafe mit den Füßen gefesselt wurden.
Auch wenn schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Bau der ersten Hochöfen begonnen wurde, sollte die Entwicklung Bilbaos erst nach der letzten Belagerung im Karlistenkrieg achtzehnhundertvierundsiebzig richtig anlaufen. Damals vereinigten sich die Gemeindebezirke von Abando und Begoña, es erfolgte die sich Barcelona zum Vorbild nehmende planmäßige Erweiterung des Stadtkerns, und so bedeutende Gebäude wie das Theater Arriaga, die Börse oder die Alhóndiga wurden gebaut.
Die industrielle Entwicklung an der Ria, die Gründung von zahlreichen Eisenhütten und diversenSchiffswerften, förderten das Bankwesen und den Handel und machten Bilbao zur Hauptstadt der baskischen Wirtschaft. Der industrielle Niedergang ab den neunzehhunderziebziger Jahren hat sich in der Region bemerkbar gemacht. Allerdings gelang es der Stadt, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zu diversifizieren und seit Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre vom Image einer hässlichen, grauen, schmutzigen Stadt loszukommen, das ihr jahrzehntelang anhing.
Der inzwischen Bilbao-Effekt (auch: „Guggenheim-Effekt“) genannte Boom versetzte die durch eine hohe Arbeitslosigkeit belastete Industriestadt Bilbao in prosperierenden Taumel und wirkte sich auch auf das ganze Land aus. Voraussetzung war die Integration der sich über fünfzehn Kilometer entlang der Trichtermündung des Nervión hinziehenden heterogenen Stadtteile, die zusammenhanglos wie in Wuppertal vor dem Bau der Schwebebahn kaum urbane Identität stifteten. Ein wichtiges Element der Modernisierung war die von Sir Norman Foster geplante Metrostrecke. Deren puristisches Design erhielt eine „Liebeserklärung“: Die Bilbaínos tauften die Eingange dieser Metros als „Fosteritos“.
An eben so einer Metrostation in der Nähe der Santiago Kathedrale saßen wir nun. „Einfach zu viele Menschen“, betonte Günter immer wieder. „Hier halte ich es keinen Tag aus!“. Wir tranken das zweite Glas Bier und sinnierten darüber, was wir nun machen sollten. Es würde auch schwierig werden, hier überhaupt eine einigermaßen billige Übernachtungsmöglichleit zu finden. Die Herbergen waren allesamt überfüllt. Da Dienstag der Tag der Arbeit, der erste Mai war, schien halb Spanien auf den Beinen um mit dem Montag als Brückentag ein langes Wochenende in der baskischen Metropole zu verbringen. Es gab die Möglichkeit zu Fuß durch die Industriebrachen und Hafenanlagen bis nach Portugalete zu wandern. Aber ich wollte unbedingt vorher noch zum Guggenheim - Museum um zumindestens einen kurzen Blick auf den Puppy, eine mit Blumen bepflantze Welpenfigur zu werfen, die Jeff Koons, einer der teuersten noch lebenden Künstlern auf auf der Welt hier vor dem Museum als Installation einst aufstellte. Auch von der neun Meter hohen Spinnen-Bronzefiguren, der „Maman“ brauchte ich unbedingt ein Foto.
copyright by Hansjürgen Katzer, 2018
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