1. Der Winter und die Einsamkeit
Gerade erst war der November ins Land gezogen und hatte den Winter und bittere Kälte mit sich gebracht. Über Nacht hatte es zu schneien begonnen. Zarte, weiße und zauberhafte Schneeflöckchen waren aus den dichten und dunklen Wolken des Himmels hinunter auf die Erde gefallen und hatten sich wie eine Decke aus feinstem Leinen, über den Teufelswald und das angrenzende Tal gelegt.
Früher einmal, vor langer, langer Zeit hatten im Teufelswald eine stattliche Anzahl von Zwergen und Wichtelmännchen mit ihren Familien gelebt. Sie waren freundliche Gesellen gewesen. Meisterlich hatten sie sich im Sammeln von Kräutern, Pilzen und Beeren geübt und auch von der Jagd und der Landwirtschaft verstanden sie so einiges. Berühmt war aber vor allem auch ihr gutes Bier gewesen, das sie in einem kleinen Sudhaus brauten und das weit über die Grenzen des Waldes Anklang und lobende Anerkennung gefunden hatte. Kurzum die Zwerge und Wichtel hatten im Teufelswald ein gutes und sorgenfreies Leben geführt.
Dann aber war Gork, ein böser und mächtiger Zauberer mit seiner Armee, bestehend aus mordlüsternen Trollen in den Wald eingefallen. Gork ein verschrobener Tyrann, hasste die Zwerge und Wichtelmännchen wie nichts anderes auf Gottes Erdboden. Er errichtete eine brutale Schreckensherrschaft im Teufelswald. Die Zwerge und Wichtelmännchen mussten sich ihm unterwerfen und absoluten Gehorsam geloben. Gnadenlos ließ Gork sie für sich rackern und schuften. Viele Zwerge und Wichtelmännchen wurden unter seiner grausamen Knute gequält und mißhandelt. Nicht wenige kamen dabei sogar zu Tode und fanden ihr jähes und trauriges Ende.
So kam es, dass die Zwerge und Wichtelmännchen den Schandtaten des Zauberers überdrüssig wurden. Eines Nachts in aller Stille verschwanden sie aus dem Wald und wurden nimmermehr gesehen. Als Gork und die Trolle, die Flucht der Zwerge und Wichtelmännchen bemerkten, waren sie außer sich vor Wut. Aber es nutzte ihnen nichts. So wurde ihnen nach einiger Zeit recht langweilig zumute und sie verließen den Teufelswald wieder um sich auf die Suche nach neuen Untertanen zu begeben, die sie nun anstelle der Zwerge und Wichtel unterdrücken und knechten konnten.
Der Teufelswald war zwar bald wieder zur Ruhe gekommen und auch der Frieden und die Beschaulichkeit kehrten wieder ein. Aber es dauerte noch einige Jahre, bis eines der Wichtelmännchen mit dem wunderschönen Namen “Eugen Balduin Munkelpietz“ in den Teufelswald zurückkehrte. Es hatte es sich in einer Wohnhöhle, unterhalb einer riesigen, uralten Eiche gemütlich gemacht und führte ein ruhiges und beschauliches Leben. Tagein, tagaus streifte es durch den Wald, sammelte allerlei nützliche und unnützliche Dinge und war eigentlich recht zufrieden.
An diesem Morgen, der alles verändern sollte, war der Wichtel bereits in aller Frühe aufgestanden. Er hatte sich einen Eichelkaffee aufgebrüht und sich einen wohlschmeckenden Buchweizenpfannkuchen zubereitet. Beides hatte den kleinen Wichtel wunderbar gestärkt. Nun stand er mit einer kleinen Schaufel bewaffnet vor dem Eingang zu seiner Höhle und mühte sich redlich einen Weg durch die dichte Schneedecke zu graben. Er schwitzte trotz der eisigen Kälte des Morgens. „Pfui, pfui hörte man ihn lauthals klagen und fluchen. Ich hasse den Winter. Er bringt nichts außer Ärger, Last und Einsamkeit!“
Plötzlich knackte es im Geäst über ihm und etwas Schnee fiel ihm auf die rote Zipfelmütze, welche er stets auf seinem Wichtelhaupt trug. Er drehte sich um und blickte nach oben. Auf einem Ast sitzend, bemerkte er nun Walburga Wichtig, die alte Waldohreule, mit der ihn eine tiefe Freundschaft verband. Sie betrachtete das Wichtelmännchen mit ihren großen, gelben Augen. „Guten Morgen lieber Freund,“ begrüßte ihn die alte Eule. Dann legte sie den Kopf ein wenig quer, so wie es Eulen eben tun und plusterte sich kräftig auf um einen besseren Schutz vor dem eisigen Wind zu bekommen, der ihr durch das Gefieder blies. „Nun hat uns der Winter wohl wieder vollends in seiner harten, kalten Hand.“
Der Wichtel nickte verdrossen. „Ja, da hast du wohl recht Walburga!“ Mit einer hastigen Armbewegung wischte er sich einen dicken Schweißtropfen von seiner kleinen Wichtelnase. „Und falls du es genau wissen möchtest, so kann ich dir nur sagen, ich mag ihn überhaupt nicht, den Winter. Mit all seiner Kälte, dem Schnee und dem Eis kann er mir getrost gestohlen bleiben und außerdem bedeutet Winter stets grenzenlose Einsamkeit!“
Die Eule sah den Wichtel an und bewegte ihr altes Eulenhaupt bedächtig hin und her. „Ich verstehe dich recht gut Eugen Balduin Munkelpietz. Nur die Sache mit der Einsamkeit gibt mir doch ein wenig zu denken. Wieso bist du einsam? Du hast doch zahlreiche Freunde hier im Teufelswald. Ich denke da zum Beispiel an Grimmbart den Dachs, oder an Rotschweif den Fuchs und auch der Igel kommt dich ständig besuchen, oder?“
Der kleine Wichtel nickte. „Ja, das stimmt schon! Ich habe hier zahlreiche Freunde gefunden, da hast du ganz recht. Aber weißt du, wenn der Winter kommt und es wird ganz früh dunkel, dann sitze ich an meinem Tisch in der kleinen Stube und denke an die alten Zeiten. Und dann werde ich immer ganz traurig, weil ich immer an all die anderen Zwerge und Wichtelmännchen denken muss, die hier einst lebten. Ach ich vermisse sie manchmal ganz schrecklich. Was haben wir damals nur für Feste gefeiert, was haben wir getanzt und gelacht!“
Der kleine Wichtel seufzte und eine kleine Träne glitzerte in seinem Augenwinkel. Walburga Wichtig verstand ihn aus vollstem Herzen. Auch sie konnte sich noch recht gut an die Zeit erinnern, als die Zwerge und Wichtelmännchen den Teufelswald mit ihrer Freundlichkeit und Heiterkeit erfüllten. Kein Tier, keine Pflanze, die sie nicht mit Respekt behandelt hatten. Ja, es war wirklich sehr schön gewesen, damals bevor der schreckliche Gork in den Wald eingefallen war.
Aber die Schreckenszeiten waren nun schon lange Jahre her. Eugen Balduin, der kleine Wichtel musste damals noch ein Kind gewesen sein, kaum älter als sieben oder acht Jahre alt. Er hatte sehr viel Leid ertragen müssen, denn die grausamen, blutrünstigen Trolle töteten damals seine Eltern, weil sie sich dem Zauberer nicht unterwerfen wollten. Eine alte Zwergenfrau hatte sich dem Wichtel dann angenommen, bis zu dem Tage an dem die Zwerge und Wichtel aus dem Wald geflüchtet waren und sich in alle Himmelsrichtungen verstreut hatten. Etwa zehn Jahre später war er dann wieder in den Teufelswald zurückgekehrt. Eugen Balduin Munkelpietz redete eigentlich nie von den grausamen Tagen, die er unter der Schreckensherrschaft des bösen Zauberers durchleiden musste.
„Vielleicht sollte ich mich im nächsten Frühjahr auf die Suche nach meinen Freunden von damals begeben, flüsterte Eugen Balduin Munkelpietz leise. Sicherlich verspürt der eine oder andere die Lust, mit mir in den Teufelswald zurückzukehren, wenn er erfährt, das Gork den Wald längst wieder verlassen hat!“ Die Eule nickte zustimmend.
„Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee, kleiner Freund! Ich hoffe das du bei deiner Suche Erfolg haben wirst, denn es wäre auch für den Wald und für uns Tiere sehr schön, wenn der eine oder andere Zwerg und Wichtel zurückkehren würde. Wir haben uns ja eigentlich immer recht gut verstanden. Aber jetzt muss ich weiter, genug geredet! Frau Kaninchen erwartet mich noch zum Kaffee und das kann ich mir keinesfalls entgehen lassen. Bis bald Eugen Balduin Munkelpietz und arbeite nicht mehr so viel!“ Sie hob die Flügel und flog davon.
„Danke,“ rief ihr der Wichtel nach. Und mit einem Mal kam ihm der Winter gar nicht mehr so trostlos und traurig vor. In seinen Gedanken sah er schon das kommende Frühjahr und den Tag an dem er aufbrechen würde um seine Freunde zu suchen, die nun in alle Winde verstreut waren. Er schaufelte noch ein wenig Schnee, stieg dann hinab in seine Wohnhöhle und brühte sich einen wohlduftenden Pfefferminztee auf, den er mit etwas Fliederhonig süßte. Es gab noch viel zu tun und vorzubereiten, bis es im Frühjahr losgehen sollte.
© Hansjürgen Katzer, 1997
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